Die gespaltene Unternehmens­persönlichkeit

Als Jugendlicher stellte ich mir vor, dass meine Persönlichkeit im Erwachsenenalter ausgereift und ich auf dieser Basis souverän durch mein Leben navigieren würde. Heute bin ich schlauer. Identitätsarbeit geschieht lebenslänglich. Und so wie ich kontinuierlich an meiner Identität arbeite, tun es auch die meisten Unternehmen. Einige davon habe ich begleitet und festgestellt, dass sie unter einer gespaltenen Persönlichkeit litten. Es ist das Ergebnis steigender komplexer Anforderungen, die sich jedoch vermeiden ließen.  

Die Persönlichkeitsspaltung äußert sich u.a. darin, dass die Betroffenen zwei oder mehrere Identitäten haben und Lücken in ihren Erinnerungen von alltäglichen Ereignissen aufweisen. Das lässt vielleicht einige von Ihnen schmunzeln, aber es ist genau das, worauf ich hinauswill. Eine Person, in diesem Fall, ein Unternehmen handelt so, als ob es zwei oder mehrere unterschiedliche Identitäten hat und ist sich dieser Außenwirkung noch nicht einmal bewusst. Wie kann das sein? Um dies zu verstehen, müssen wir drei Dinge unter die Lupe nehmen: 1. die zunehmende Relevanz der Unternehmensidentität, 2. die identitätsstiftenden Aspekte und Dimensionen für die Identitätsarbeit und 3. die für die Realisierung verantwortlichen Instanzen.

Sprechen wir zunächst über die zunehmende Relevanz für die Identitätsbildung. Ohne hier zu sehr auf die Details für die Gründe dieser Entwicklung eingehen zu wollen, muss als erstes die steigende Komplexität auf Ebene der Stakeholder und Touchpoints erwähnt werden. InvestorInnen, PartnerInnen, KundInnen, MitarbeiterInnen und potenzielle MitarbeiterInnen sollen in einer Vielzahl von Kommunikations- und Vertriebskanälen ein einheitliches Bild der Unternehmensidentität bekommen. Und das sowohl rational als auch emotional in Form von Text, Bild, Bewegtbild und Verhalten von Unternehmensangehörigen – eine sportliche Herausforderung. 

"Identitätsarbeit ist Arbeit an einer Gleichung mit vielen Variablen."

Einheitlichkeit ist hier ein Schlüsselbegriff. Denn, wenn wir uns die unterschiedlichen Aspekte und Dimensionen für die Identitätsarbeit verdeutlichen, wird klar, dass wir hier an einer Gleichung mit vielen Variablen arbeiten. Den offensichtlichen markenstrategischen Aspekten (Markenwerte, Markenpositionierung, Markenvision und -kern, Markenbotschaften und -design) und übergeordnet unternehmensstrategischen Aspekten (Unternehmenswerte, Unternehmensvision, -mission, Purpose, Unternehmenszielen inkl. ESC-Richtlinien) sind weniger offensichtliche, aber dennoch identitätsprägende Dimensionen wie die Unternehmenskultur, die sich im Verhalten der Führungskräfte und Mitarbeitenden manifestiert, hinzuzufügen. Auch die wachsende Bedeutung der Arbeitgebermarke sowie die der Unternehmenskommunikation zahlt letzten Endes auf die Ausgestaltung der Unternehmensidentität ein. 

Kommen wir zum letzten Punkt: dem, der Verantwortung. Aus den vorherigen Punkten dürfte klargeworden sein, dass es viele AkteurInnen an der Identitätsbildung eines Unternehmens mitwirken oder mitwirken sollten. Um nur die wichtigsten zu nennen: die Unternehmensleitung ist für die Unternehmensstrategie verantwortlich, das Marketing für die Marken- und Marketingstrategie, People & Culture für die Arbeitgebermarke, das Employer Branding und weite Teile der Unternehmenskultur, UK für die Unternehmenskommunikation und Investor Relations für die Darstellung des Unternehmens gegenüber den InvestorInnen. Nicht zu vergessen Sales, das die Schnittstelle zu den KundInnen darstellt. 

Zusammenfassend kann abgeleitet werden, warum es zu einer „Persönlichkeitsspaltung“ kommen kann. Die wachsende Anzahl von Anspruchsgruppen und Kontaktpunkten erhöht das Risiko der Zerstreuung und der Inkonsequenz im einheitlichen Auftreten. Die Vielzahl von identitätsbildenden Aspekten und Dimensionen schafft Raum für Gegensätze und widersprüchliches Verhalten. Unterschiedliche oder unklare Verantwortlichkeiten für Entwicklung und Realisierung einer Unternehmensidentität führen zu divergenten und parallel verlaufenden identitären Ausprägungen. Da Identitätsarbeit im unternehmerischen Kontext immer die Zielsetzung hat, Orientierung zu stiften, kann sie durch den zuvor beschriebenen Zustand genau das Gegenteil bewirken. Desorientierung und Stillstand.

Ein Kunde von mir beschäftigt sich seit einiger Zeit mit der Frage, welcher Unternehmensbereich primär für die Unternehmenskultur zuständig ist. Marketing sagt, dass eine integrierte Marke auch über die Markenwerte starke Impulse in Richtung Verhalten der Mitarbeitenden setzen sollte. Die HR-Abteilung sieht sich verantwortlich für die Entwicklung von Unternehmenswerten, die als Grundlage für die Führungskräfteentwicklung herangezogen werden sollen. Gleichzeitig entwickelt der Vorstand die Unternehmensstrategie, aus der sich konkrete Handlungsanweisungen für das Verhalten von Mitarbeitenden ergeben. Alle drei Bereiche wirken identitätsstiftend und -prägend in ihrer solitären Herangehensweise und entwickeln parallel unterschiedliche Handlungsempfehlungen für identische Stakeholdergruppen. 

Wer die „gespaltene Unternehmenspersönlichkeit“ und somit Desorientierung und Stillstand vermeiden möchte, sollte sich im ersten Schritt darüber im Klaren sein, welche Aspekte und Dimensionen in der Unternehmensentwicklung identitätsbildend sind. Die notwendige Erkenntnis sollte schon vorher sein, dass Identitätsarbeit immer abteilungsübergreifend stattfindet. Das bildet die Grundlage für den zweiten Schritt: eine klare Definition und Zuordnung der Maßnahmen zur Identitätsentwicklung. Dies sollte aus der Unternehmensleitung in Abstimmung mit den Bereichsleitern erfolgen. Der dritte Schritt bezieht sich auf die Integrationsfähigkeit der identitätsbildenden Aspekte und Dimensionen. Hier ist eine abteilungsübergreifende Kooperationsfähigkeit gefragt. Die Projektteams und Führungskräfte müssen sich in Intervallen zusammensetzen, ihre Ergebnisse präsentieren, proaktiv Feedback einfordern und im Sinne der Einheitlichkeit die unterschiedlichen Lösungen anpassen und konsolidieren. 

Take-Outs

  • „Die gespaltene Unternehmenspersönlichkeit“ – viele Unternehmen erzeugen das Bild eines inkonsistenten Auftritts oder Verhaltens
  • Um die Problematik verstehen zu können, müssen drei Faktoren in Betracht gezogen werden: die wachsende Relevanz von Identität, die Komplexität von identitätsbildenden Aspekten und Dimensionen, die Verantwortlichkeiten für die Entwicklung einer Unternehmensidentität
  • Mit wachsender Anzahl von Stakeholdern und Kontaktpunkten steigt das Risiko von Zerstreuung und Inkonsequenz
  • Die Vielzahl von identitätsbildenden Aspekten und Dimensionen schafft Raum für Gegensätze und widersprüchliches Verhalten
  • Unterschiedliche oder unklare Verantwortlichkeiten führen zu divergenten und parallel verlaufenden identitären Ausprägungen
  • Wer die „gespaltene Unternehmenspersönlichkeit“ vermeiden möchte, sollte sich im ersten Schritt darüber im Klaren sein, welche Aspekte und Dimensionen in der Unternehmensentwicklung identitätsbildend sind
  • Im zweiten Schritt sollte eine klare Definition und Zuordnung der Maßnahmen zur Identitätsentwicklung erfolgen
  • Im dritten Schritt ist eine abteilungsübergreifende Kooperationsfähigkeit gefragt, um Einheitlichkeit in den unterschiedlichen Lösungen zu erzeugen
Hannes Ley ist strategischer Unternehmensentwickler und Gründer von THE MAIN. Als Autor publiziert er in diesem Blog über die systemische Erfahrungen und Fragestellungen, mit denen er im Berufsalltag konfrontiert ist. Sein Profil findest Du hier: www.linkedin.com/in/hannesley/